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Wir stellen Tony Ettlin vor: Berater, Schriftsteller und Autor des Kollaborationsmärchens “Die August-Methode”.

Vor ein paar Wochen war ich in die Vorbereitung eines Workshops vertieft und meine Kundin fragte mich nach Geschichten, in der Zusammenarbeit und nicht ein einsamer Held im Zentrum steht. Sie wollte eine solche Geschichte den Teilnehmern des Workshops am Ende als Geschenk mitgeben. Sie suchte selbst nach solchen Geschichten, aber wurde nicht fündig: Die Helden in Märchen, in der Mythologie oder in Legenden agieren oft allein oder sind Einzelgänger.  Auch ich dachte nach und mir fiel keine geeignete Geschichte ein. So entschied ich mich, auf Facebook zu posten und fragte Freunde um Hilfe nach der Suche nach einer Geschichte an. Das Resultat war beeindruckend: Nicht nur erhielt ich Hinweise auf Geschichten aus verschiedenen Kulturen, der Berater und Schriftsteller Tony Ettlin erklärte sich kurzerhand bereit, uns zu helfen und gleich selbst eine Geschichte zu verfassen, in welcher der Held ein Vorbild in Zusammenarbeit ist. Hier also die Geschichte von Tony Ettlin mit einem grossen Dankeschön für seinen Beitrag an die Kooperationskultur. Mehr Geschichten werden in Zukunft auf diesem Blog erscheinen.

 

Die August-Methode

 

Es war einmal ein König, der sein Land gut regierte. Er war weise und beliebt. Sein Königreich war in 56 Bezirke eingeteilt, die alle recht viel Autonomie hatten. Infolge der unterschiedlichen Topografie des Landes – es gab Berge, flaches Land, grosse Seen, bewaldete Gebiete, eher unfruchtbare, steinige Gegenden und das Meer – hatten sich über die Jahrhunderte unterschiedliche Gewerbe und Kulturen gebildet. Die Bezirke am Meer hatten sich auf Fischfang und internationalen Handel über die Häfen spezialisiert, die Berggebiete betrieben vor allem Tourismus, in den flachen Gebieten hatten sich unterschiedliche Industrien angesiedelt, die grossen Ebenen mit dem fruchtbaren Land wurden von der Landwirtschaft genutzt, in den unfruchtbaren, steinigen Gegenden hatte man wertvolle Rohstoffe gefunden, die nun abgebaut wurden, in den Städten hatten sich Dienstleistungsbetriebe angesiedelt und in der Hauptstadt war die Verwaltung des Königsreichs ein wichtiger Arbeitgeber.

Nach jahrzehntelangem Wachstum rutschte das Land in eine Krise. Niemand konnte erklären, warum. Das Bruttosozialprodukt stagnierte seit Jahren und die Prognosen der Oekonomen sahen nicht gut aus. Der König machte sich Sorgen.

Nach langer Beratung mit seiner Regierung gab der König bekannt:

„Liebe Bewohnerinnen und Bewohner meines Königreichs! Wie Ihr wisst, stecken wir als Land in einer Krise. Niemand kann mir die Ursachen erklären und erst recht nicht eine vernünftige Lösung präsentieren. Ich glaube aber, dass es in diesem Land eine Frau oder einen Mann gibt, der oder die eine Lösung kennt. Deshalb schreibe ich einen Wettbewerb aus. Wer mir innerhalb von sieben Monaten aufzeigen kann, wie das Land aus der Krise herauskommt, soll reich belohnt werden und mit seiner ganzen Familie für sein ganzes Leben ausgesorgt haben.“

Der Aufruf löste im Land ein geschäftiges Tun aus. Gescheite Wissenschaftler zogen sich in Klausuren zurück und entwickelten Pläne und Strategien, wie die Krise zu bewältigen sei. Beratungsunternehmen setzten ihre besten Leute auf das Projekt an und fütterten die Computer mit riesigen Datenmengen. Kreative Bewohner entwickelten utopische Modelle des Landes. Jeder und jede wollte den Preis gewinnen und sich den lebenslangen Wohlstand sichern.

August, ein Einwohner eines Bezirkes im Flachland überlegte sich, was er dem König vorschlagen könnte. Er hatte seit langem die Entwicklung des Landes verfolgt und wusste aus Erfahrung, dass all die Lösungen der Experten schon durchgespielt worden waren und zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hatten. Aber er wusste auch keinen besseren Ansatz. Da ihm aber das Wohlergehen des Landes sehr am Herzen lag, begann er herumzureisen und mit den Leuten zu reden. Er besuchte alle 56 Bezirke und stellte immer die gleichen drei Fragen:

„Was könnt Ihr besonders gut?“ „Wie könnt Ihr Eure Nachbarbezirke unterstützen?“ „Was braucht Ihr, um Eure speziellen Fähigkeiten noch besser einzusetzen?“

Er notierte sich alle Antworten in sein Note-Book.

Es sprach sich schnell herum, dass da einer unterwegs war, der einfache Fragen stellte, aber scheinbar auch keine Lösung für die Probleme des Landes hatte. Die Zeitungen berichteten über August. Wo er auftauchte, bildeten sich sofort Versammlungen von interessierten Einwohnerinnen und Einwohnern, die auf seine Fragen antworten wollten. Sie luden ihn ein und organisierten Workshops. Die Resultate zu seinen drei Fragen wurden zusammengefasst und ihm zur Verfügung gestellt. Aber überall wurde ihm am Schluss einer Versammlung die Frage gestellt: „Was wirst du denn nach deiner Reise durch die Bezirke dem König vorschlagen?“

„Ich weiss es nicht!“ war seine Antwort. Die Leute waren ein bisschen enttäuscht. „Aber du wirst doch unsere Vorschläge und Anträge vorbringen!“ forderten sie.

„Ich kann Euch nichts versprechen!“ antwortete er und reiste weiter.

Bald waren der Andrang und die Nachfrage nach Workshops so gross, dass August es nicht mehr schaffte, überall dabei zu sein. Er liess über die Medien mitteilen, dass sie die Workshops ohne ihn durchführen und ihm einfach die Resultate schicken sollten. Das kam nicht überall gut an, aber schliesslich sahen die meisten ein, dass August nicht gleichzeitig an allen Orten sein konnte.

Die sieben Monate gingen vorbei und der König lud zur grossen Präsentation ein. Die Veranstaltung dauerte eine ganze Woche. Jeder Experte hatte eine Stunde Zeit, um seine Vorschläge zu präsentieren. Danach zog sich der König mit seinem Stab eine Stunde zurück und gab gleich anschliessend seine Entscheidung bekannt. Analysen wurden vorgestellt, Projekte und Strategien vorgeschlagen, Zukunftsmodelle skizziert. Die einen schlugen Wachstum vor, Steuern senken, den Konsum ankurbeln, Geld in die Wirtschaft pumpen, andere forderten zum Sparen auf, Schulden abbauen, Verwaltung verkleinern. Privatisierung, mehr Eigenverantwortung wurde empfohlen. Andere sahen das Heil in der Stärkung des Staates und dem Ausbau der Sozialleistungen.

Der König hörte sich die Vorschläge geduldig und interessiert an, stellte Fragen und zog sich dann zur Beratung zurück. Dann gab er seinen Entscheid bekannt. Es war jedesmal ein Nein. Unter den Experten verbreitete sich Enttäuschung und Unmut. Die Begründung des Königs war immer kurz: „Danke für Ihre interessanten Analysen und Vorschläge, aber sie haben mich nicht überzeugt.“

Gegen Ende der Woche hatte August seinen Präsentationstermin. Er hatte gewünscht, dass er am Schluss drankomme, da er noch Zeit brauche, um das umfangreiche Datenmaterial auszuwerten. Er erschien ohne Laptop und ohne Aktenmappe. Er trug nur ein zusammengerolltes Plakat unter dem Arm. So trat er vor den König und seine Berater.

„Verehrter König!“ begann er. „Ich bin in den letzten sieben Monaten im Land herumgereist und habe mit Tausenden von Leuten gesprochen. Ich habe immer die gleichen drei Fragen gestellt:

„Was könnt Ihr besonders gut?“ „WIe könnt Ihr Eure Nachbarbezirke unterstützen?“ „Was braucht Ihr, um Eure speziellen Fähigkeiten noch besser einzusetzen?“

„Wie Ihr vermutlich gehört habt, hat meine Aktion eine Welle der Beteiligung ausgelöst. Es wurden Hunderte von Versammlungen und Workshops durchgeführt, zum Teil war ich dabei, zum grossen Teil fanden sie ohne mich statt. Die Ergebnisse füllen Unmengen von Files auf meinem Computer. Ich will Sie nicht mit den Daten langweilen und ihnen nur das Fazit vorstellen.“ Er ging zum Flipchart-Ständer und entrollte sein Plakat. Darauf war zu lesen:

„Der Fischer soll fischen, der Bauer soll ernten, die Fabrik soll produzieren…. und jeder soll den anderen unterstützen. Das Projekt läuft!“

August wartete. Die Gesichter der Berater drückten Ratlosigkeit aus. Der König schmunzelte: „Danke! Ich verstehe!“ Er verabschiedete August. Kaum hatte er den Raum verlassen, brach eine hitzige Diskussion aus: „Was soll denn das? Das ist doch eine Frechheit! Das ist doch kein Lösungsvorschlag!“

Nach einiger Zeit gebot der König Ruhe.

„Meine Damen und Herren. Ich verstehe Eure Empörung und Eure Kritik. Aber nach all den Vorschlägen, die wir diese Woche gehört und abgelehnt haben, wurde mir bei Augusts Präsentation etwas bewusst: Wir brauchen keine neuen Strategien und Strukturen. Wir brauchen auch keine grossartigen Zukunftsmodelle und politische Umwälzungen. Alles ist da. Unsere Leute haben alle Fähigkeiten und Talente, die es braucht. Jeder Bezirk hat seine Stärken. Sie müssen nur besser zusammenarbeiten. Die drei Fragen, die August stellte, sind die Lösung und der Prozess ist im Gang. Wir müssen nur die nötigen Mittel zur Verfügung stellen und alle Aktivitäten unterstützen, die aus den Workshops entstehen.“

Es setzte eine intensive Diskussion ein, die bis in die Nacht dauerte. Irgendwann sagte der König: „Wir sollten August über unseren Entscheid informieren. Der arme Kerl ist sicher bald verhungert.“ Aber das Vorzimmer war leer und August war nicht mehr aufzufinden.

Am nächsten Morgen gab der König seine Entscheidung bekannt: „Die August-Workshops sollen im ganzen Land weitergeführt werden. Die Vorschläge, die daraus entstehen, werden finanziell unterstützt, wenn sie die folgenden Kriterien erfüllen: „Sie müssen auf den Stärken des Bezirks aufbauen. Sie müssen eine Zusammenarbeit mit mindestens einem anderen Bezirk beinhalten. Und sie dürfen niemandem schaden.“

Die Entscheidung löste eine Welle von Aktivitäten aus. Hunderte von Vorschlägen wurden eingereicht und umgesetzt und bald war der Aufschwung im Land spürbar.

Der König liess August suchen, damit er die verdiente Belohnung abholen könne. Aber August war nicht aufzufinden. Nach einer Woche traf beim König ein Brief von ihm ein: Er bitte darum, dass die Suche eingestellt werde. Er möchte weiterhin so leben wie bisher. Wenn es dem Land besser gehe, dann sei das die Leistung aller Beteiligten und das sei für ihn die grösste Belohnung.