Jenseits von Wohltätigkeit: Flüchtlinge, Migranten und Unternehmertum
Welche inneren Bilder haben wir von Flüchtlingen und Migranten? Sehen wir einen Unternehmer, der Roboter entwickelt, welcher hilft, den Verkehr sicherer zu machen? Oder eine Frau, die eine neue innovative Modemarke entwickelt, die in Zürichs schicken Läden zum Verkauf angeboten wird? Vermutlich haben die meisten von uns andere Assoziationen, wenn wir an Migranten und speziell an Flüchtlinge denken. “Zeit, diese mentalen Modelle zu überdenken” , sagen die Gründerinnen von Capacity Zurich , einer Not-for-Proft, welche Migranten dabei betreut, ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial in ihrer neuen Heimat einzusetzen, um neue Geschäftsideen zu entwickeln und umzusetzen. ecloo unterstützt dabei Capacity Zurich, um das Potenzial der Zusammenarbeit der verschiedenen Beteiligten, insbesondere der Flüchtlinge, zu nutzen. Das Programm, welches mehrere Monate dauert, dient Migranten und Flüchtlingen dazu, ihre Projekte und Geschäftsideen in die Realität umzusetzen.
Ich bin wohl behütet in der Schweiz aufgewachsen, wo der letzte Krieg vor gut 200 Jahren gegen Napoleon gefochten wurde. Mein einziger direkter Bezug zu Flüchtlingen war bislang mein polnischer Grossvater, der im 2. Weltkrieg in die Schweiz flüchtete, den ich aber leider nie kannte. An diesem Tag moderiere ich zusammen mit Rakesh Chand, CEO der Kaura Foundation, einen Workshop für Migranten. Ich denke an meinen Grossvater und daran, wie schnell das Schicksal zuschlagen kann für Menschen, die in Kriegsgebieten leben oder sonst zu den verletzlichsten Bevölkerungsgruppen gehören. Wer mögen diese Leute sein, mit denen ich an diesem Nachmittag arbeiten werde? Ich schaue auf die Liste: Afghanistan, Äthiopien, Argentinien, Eritrea, Kolumbien, Mexico, Serbien, Syrien… Was sind ihre Geschichten? Wie kamen sie in die Schweiz? Was sind ihre Hoffnungen?
Teil der Gruppe des Programms von Capacity Zurich, welche am Workshop gemeinsam eine neuartige Buffeterfahrung erschafft.
Die Teilnehmer stellen sich vor und erklären, was “Unternehmertum” in ihrer Muttersprache bedeutet. “Das Leben ist so schön”, ist eine Definition: Seine Fähigkeiten und Leidenschaft nutzen, um etwas Erfüllendes zu tun. Eine weitere Definition: “Ein Mann oder eine Frau, die zuerst kommt”, mit anderen Worten jemand, der nicht akzeptiert, wie die Dinge sind, sondern der bereit ist, ein Risiko einzugehen, um etwas zu verändern. Spätestens jetzt haben Rakesh und ich bemerkt, dass wir von den Teilnehmern mindestens sie viel lernen können, wie sie von uns.
Ein wichtiger Ansatz, den wir im Workshop anwenden ist die sogenannte Effectuation, was Folgendes bedeutet: Anstatt ein Projekt oder ein Unternehmen aufgrund von Träumereien ins Leben zu rufen, überlegt man sich zuerst, was man mitbringt an kulturellem Kapital (Wissen und Fähigkeiten), sozialem Kapital (mein Netzwerk bzw. Leute, die ich kenne) und finanziellen Mitteln. Dann überlegt man sich, was man daraus entwickeln kann. Zur Illustration des Ansatzes ist die Metapher der Kochens hilfreich: Wenn ich etwas koche, kann ich entweder einkaufen gehen und alles kaufen, was ich brauche. Oder, ich blicke in den Kühlschrank und überlege mir, was ich mit dem, was ich finde, kochen kann. Effectuation entspricht dem zweiten Ansatz (s. dazu auch blog Post – Praxis der Kollaboration 4: Kochen als Form der Zusammenarbeit). Die Teilnehmer wurden vor dem Workshop gebeten, etwas Essbares mitzubringen und haben jetzt die Aufgabe, im Sinne der Effectuation ein Buffet und neuartige Erfahrung zu gestalten mit dem, was sie mitgebracht haben. Dazu haben sie 20 Minuten Zeit.
Trainer und Moderatoren verlassen den Raum. Nach 20 Minuten kommen wir gespannt zurück. Die Teilnehmer wollten zur Begrüssung Musik vorspielen, fanden dazu aber nicht die nötigen Geräte. Also hat sich eine Teilnehmerin dazu entschieden, ein serbisches Lied gleich live zu singen: Eine inspirierende Anwendung von Effectuation! Das Buffet ist einfach, aber geschmackvoll dekoriert, das Essen ist köstlich und alle amüsieren sich, lachen und unterhalten sich angeregt. Wie haben sie das in so kurzer Zeit geschafft? Chantico aus Mexico hat ganz natürlich die Führung übernommen, indem sie allen genau zugehört und dann Aufgaben verteilt hat. Danach gingen alle gemeinsam an die Arbeit und haben sich gegenseitig unterstützt.
Nun widmen sich die Teilnehmer ihren eigenen Projekten und denken darüber nach, wie sie ihre Fähigkeiten, ihr Wissen, ihr Netzwerk und andere Mittel dazu einsetzen, ihr Projekt weiter zu bringen und manchmal neu zu überdenken. Danach präsentieren alle ihr Projekt und nutzen den Business Model Canvas, um ihre Idee strukturiert zu reflektieren und auf einer Seite zusammen gefasst vorzustellen. Trainer, Moderatoren und Teilnehmer arbeiten auf Augenhöhe zusammen, indem sie Fragen stellen und manchmal auch Hinweise geben, um die Ideen zu verfeinern und sie einen Schritt weiter zu bringen. Unten ein paar Beispiele von Projekten:
- Kreation einer neuen Modelinie (Amunemi) durch Up-cycling von verworfenen Baumwoll- und Lederprodukten, z.B. von einer Tasche, welche sich an kalten Wintertagen in einen Schal verwandeln lässt, was speziell für die Ski fahrende Bevölkerung in der Schweiz praktisch ist.
- Organisieren von Stadtbesichtigungen und Sprachkursen in Zürich für neu angekommene Flüchtlinge, damit diese in der neuen Heimat besser Fuss fassen können. Ich selber würde mich einer solchen Stadtführung gerne selbst anschliessen!
- Organisieren von Begegnungen zwischen Migranten und Schweizern, damit Schweizer die Migranten besser kennen lernen und umgekehrt, so dass Integration in beide Richtungen geschieht. Alles unter dem Motto: Lernen zusammen zu leben und gegenseitige Ängste abbauen.
- Eröffnung eines Afghanischen Catering-Service, um der lokalen Bevölkerung (Schweizer und Migranten) eine neuartige kulinarische Erfahrung zu ermögliche. Und das im Sinne von lean start ups: Vor der Eröffnung wird die Idee vorerst zu Hause mit Familien und Freunden getestet!
- Organisieren von Begegnungen zwischen Flüchtlingen und älteren Menschen in der Schweiz und so neue Kontakte schaffen und der Isolation entgegen wirken.
Unter den Projekten finden sich reguläre Geschäftsideen sowie soziale Unternehmungen, wobei alle nicht nur den Migranten und Flüchtlingen nützlich sind, sondern einen wichtigen Beitrag für die lokale Wirtschaft und das friedliche Zusammenleben leisten.
Dank der Zusammenarbeit unterschiedlicher Kulturen, Perspektiven, Erfahrungen und Fertigkeiten verlassen alle den Workshop inspiriert und gespannt, wie sich die Projekte in den nächsten Monaten weiter entwickeln werden. Aber vor allem stellen wir uns folgende Fragen: Was wäre, wenn unsere Gesellschaft und Wirtschaft die Fähigkeiten und die Energie der Migranten und Flüchtlingen besser einsetzen könnte? Was, wenn wir Helfen als Form der Zusammenarbeit verstehen, die in zwei Richtungen geht? Und was, wenn wir auch unsere Systeme so verändern würden, dass unser gemeinsames Potenzial besser genutzt wird und dabei auch Wirtschaft und Gesellschaft profitieren? Ich bin überzeugt davon, dass die Erfahrungen der Zusammenarbeit mit den Migranten und Flüchtlingen über die nächsten Monate wichtige Einsichten zu diesen Fragen liefern wird und uns aufzeigt, wie wir unser Zusammenleben durch Unterschiede hindurch stärken können.